two wolves on snow

Dem Menschen ein Wolf

Ich beobachte in mir zwei Vorgänge...

BETRACHTUNG

Coren McGirr; übersetzt von Benen McGirr

5/15/20254 min read

…dem Menschen ein Wolf.

So beschrieb einst der englische Philosoph Thomas Hobbes (17.Jhdt.) den Menschen. „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.“

Dieser Satz umfasst die Dunkelheit, die in uns liegt. Er beleuchtet unsere brutale, gar bestialische Natur.

Nach Aristoteles ist der Mensch ein „politisches Tier“. Der Mensch sei sowohl zu moralischem und politischem Denken, als auch zur sprachlichen Vermittlung von Überzeugungen und Ansichten fähig.

Während er also eine tierische Seite des Menschen noch fest in unserer Natur eingebettet sah, begriff er, dass wir weit fortgeschrittener seien als alle anderen Lebewesen.

Der Vater der Evolutionstheorie Charles Darwin meinte der Mensch sei ein nobler Affe, abstammend von Tieren. Wir seien demnach Überlebende des Evolutionsprozesses und das Resultat tausender Jahre Adaptation und Veränderung.

Es gibt unzählige Meinungen zur Natur des Menschen. Einige Theorien behaupten auf wissenschaftlicher Forschung basiert zu sein, andere sind vielmehr philosophische Ansätze. Einige stimmen miteinander überein, andere stehen im Widerspruch zueinander.

Wieso können wir nicht herausfinden, wer wir wirklich sind?

Ich weiß nicht, ob der Mensch direkt aus seiner Seele heraus sprechen kann. Ich weiß nicht, ob er tiefer in sich selbst hineinblicken kann, tiefer als diese oberflächliche Spiegelung im trüben Wasser.

Ich befürchte, dass ich keine zufriedenstellende Antwort auf diese Frage habe. Denn wenn ich versuche in mich hineinzublicken, dann treibe ich richtungslos in den stürmischen Wogen ohne jegliches Bild erkennen zu können; nicht einmal ein verzerrtes Spiegelbild. Doch dieser Sturm wird mich keineswegs davon abhalten, einige Beobachtungen zu machen und ein paar Fragen zu stellen.

Ich bin kein renommierter Denker, wie die oben angeführten Herren; nicht im Geringsten. Dennoch habe ich es mir erlaubt ihre jeweiligen Ansichten der menschlichen Natur in aller Kürze zusammenzufassen; zweifelsohne würden sie einen Herzinfarkt erleiden, wenn sie meine Wiedergabe lesen würden. Mögen sie mir verzeihen.

Aber, wo ich schon dabei bin, nehme ich mir die Freiheit diesem Diskurs einige Überlegungen hinzuzufügen.

In mir beobachte ich zwei Vorgänge: Konflikt und Konversation.

Der Konflikt entsteht, weil ich als fehlerhafter Mensch durch eine fehlerhafte Welt gehe. Die Konversation in mir ist der darauffolgende Versuch Verhaltensweisen zu rationalisieren und mich selbst und diese Welt um mich herum zu verstehen.

Ich spüre, wie Fragen in mir aufkommen.

Wenn ich denke, bin ich die Stimme in meinem Kopf, oder bin ich das Ohr, dass dieser Stimme zuhört?

Wenn das süße Gift der Versuchung meine Lippen berührt, bin ich das Antidot, dass mich retten möchte, oder greife ich nach dem Gift wie nach einem Tropfen Wasser in der Wüste?

Wenn Trauer, Wut oder Eifersucht in mir aufkommen, bin ich die glühenden Emotionen in meinen Blutadern, oder bin ich mein Geist, der diesen Emotionen verspürt?

Oder bin ich vielleicht immer Beides gleichzeitig?

Bin ich etwa die Stimme und das Ohr?

Bin ich das Antidot, das sich aber auch nach dem Gift sehnt?

Bin ich die Emotionen und der Geist?

Ist das womöglich die schizophrene Natur des Menschen?

Er besteht aus zwei Seiten, weiß aber nicht, welche er wahrlich ist.

Ist diese Dualität vielleicht die Realität des Lebens? Gibt es nicht diesen Konflikt, diesen Kampf, in jeder meiner Taten und Gedanken?

Ich denke, dass Thomas Hobbes nicht allzu unrecht hatte, als er sagte, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei. Ein kurzer Blick in die Geschichte reicht, um festzustellen, dass das größte Übel für die Menschheit der Mensch selbst war. Ihr eigenes Blut tropft von ihren Händen. Daran gibt es keine Zweifel.

Und vielleicht ist der Mensch tatsächlich ein Wolf.

Denn schließlich muss ich sagen: Ich spüre diesen Wolf in mir.

Er drängt mich zu überleben.

Er stellt MICH über alles andere.

„So redest du sicherlich nicht mit mir,“ blafft mein innerer Wolf, sobald ich denke, dass ich ungerecht behandelt werde. Und dann beschwört er Wut herauf, sodass ich MEINEN Willen durchsetze. Er weiß, dass keiner es sich antun wird, sich mit mir anzulegen, wenn ich höchst erzürnt bin. MEIN Wille. MEIN Weg.

Mein innerer Wolf füttert meinen Stolz, er überzeugt mich, dass ich wichtiger bin als alle um mich herum. Er erinnert mich daran, dass ich etwas Besseres verdiene, als was man mir gibt. Er erinnert mich daran, dass ich mehr erreichen muss, als was ich bisher erreicht habe.

Sein wachsames Auge sucht krampfhaft nach Gefahr in meiner Umgebung, nach all dem, was mein Leben, meinen Stolz, mein Status, meine Identität bedroht. Und wenn er eine Gefahr erblickt, dann füllt er mich mit Angst, sodass ich handle, ohne auf andere Rücksicht zu nehmen. In der Angst schau ich nur auf meine Interessen, meinem Überleben, meinen Status. Denn es ist das, was meinem inneren Wolf wichtig ist. Ich bin ihm wichtig. NUR ich.

Allerdings bin ich keineswegs ausschließlich Wolf. Wie schon erwähnt, ich befinde mich dauernd im Konflikt. Wenn mein innerer Wolf die Zähne fletscht und losspringt, um meinen Stolz zu verteidigen, dann bemerke ich, dass es noch was in mir gibt, eine kleine Stimme, die gehört werden will. Nennen wir es das innere Lamm.

Wenn mein Stolz verletzt wird, flüstert mir das Lamm zu: „Lass es in Frieden. Sei kein Idiot, der auf seinen Stolz besteht.“

Das Lamm erinnert mich, dass es nicht meine Aufgabe ist, Vergeltung auszuteilen. Es bittet mich dringend, nicht auf meine Rechte zu bestehen, sondern mit Gnade und Vergebung zu leben. Es verlangt von mir, dass ich bescheiden bin, dass ich die Bedürfnisse Anderer vor meinen eigenen stelle. Glauben und moralisches Verhalten sind ihm wichtiger als mein Status und wichtiger sogar als mein Leben selbst. Es schwingt nicht das Schwert der Angst wie der Wolf, sondern bewegt mich mit der Liebe.

Das innere Lamm warnt mich vor Wut, Ungeduld, und Lüsten – allesamt Dinge, die sich der Wolf im Namen des Überlebens herbeiwünscht.

Das Lamm will, dass ich den letzten Platz nehme, sodass Andere vor mir gehen können.

Aber genauso wie ich nicht nur Wolf bin, bin ich auch nicht ausschließlich Lamm.

Ich bin beide. Gleichzeitig. Ein Mann, zwei Seiten.

Und diejenige, auf die ich höre, wird stark.

Nun, wie gesagt, ich beobachte in mir zwei Vorgänge: Konflikt und Konversation.

Der Konflikt besteht daraus, dass der Wolf und das Lamm mich in entgegengesetzte Richtungen zerren. Und da ich Lamm und Wolf zugleich bin, bin es ich selbst, der mich in entgegengesetzte Richtungen zerrt.

Die Konversation ist die resultierende Diskussion dieser Spannungen, wenn ich meine Entscheidungen treffe und die Stimme einer der zwei Seiten gehorche.

Werde ich also dem Lamm gehorchen oder werde ich dem Menschen ein Wolf?

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