Teil meiner Welt
Eine Germanenschlacht, Attila der Hunne und der Ukrainekrieg
BETRACHTUNG
Manchmal staune ich.
Ich blicke auf den Boden unter meinen Füßen. Dichtes Gras wächst hier. Die dunkelbraune Erde ist wohl reich an Nährstoffen. Hier und da liegen ein paar Steine. Dann zieht etwas Seltsames meine Aufmerksamkeit auf sich. Es ist eine Tonscherbe, fast komplett unter der Erdoberfläche verborgen. Ich hebe sie auf. So groß wie die Hälfte meiner Handfläche ist sie. Vorsichtig wische ich sie sauber. Der Schatten einer längst vergessenen Verzierung bedeckt ihre Oberfläche. Fremd fühlt sich diese Tonscherbe an.
Sie ist nicht Teil der Welt, die ich kenne. Eine Zeitzeugin ist sie. Eine Zeitzeugin, die mich daran erinnert, dass ich nicht der Erste bin, der auf diesem Boden steht.
Wieder blicke ich auf den Erdboden hinab.
Hier steh ich – eine einsame Seele, verloren inmitten des eurasischen Kontinents. Hier steh ich in Mitteleuropa. Auf einem Boden, der in Anbetracht der Geschichte erst seit kurzem Österreich heißt - und in Anbetracht der Geschichte wird dieser Boden nicht immer Österreich heißen.
Mir wird bewusst: Ich bin nicht der Erste, der hier steht.
Und ich staune.
Erst vor ein paar Tagen stand hier vielleicht jemand aus meinem Heimatdorf.
Vielleicht hatte er denselben Gedanken wie ich gerade und wurde von den Böen der Geschichte aus seiner Zeit gerissen – wie ich gerade.
Kaum drei Jahre ist es her, als die ersten Flüchtlinge aus der Ukraine auf diesem Boden ihren Fuß gesetzt haben. Russische Bomben zertrümmern ihre Heimat. Die Ukrainer reisen mit leichtem Gepäck, nicht ewig wollen sie hier bleiben – nur, bis Frieden wieder herrscht.
Vor knapp siebzig Jahren wurde dieser Erdboden unter meinen Füßen noch von sowjetischen Stiefeln plattgetreten. Das Gras zeigt noch deren Abdrücke. Ich rieche den Schweiß der Österreicher, die ihr Land nach dem Krieg neu aufbauen. Es glänzt auf Grashalmen wie der Morgentau.
Vor 78 Jahren waren es nationalsozialistische Stiefel, die auf diesen Boden traten. Ich sehe noch Brandspuren der Gräueltaten dieser Zeit. Ich sehe das Blut Unschuldiger tief in den Boden sickern. Ewig wird es dieses Land tränken. Ewig werden die Bombenkrater die Landschaft hier markieren.
Ein Nebel zieht auf. Der große Krieg – ein Krieg, der alle Kriege beenden soll, hat man gedacht. Das Grundwasser trägt die Erinnerungen einer Zeit, die wir am liebsten vergessen würden. Nicht oft kann sich der Mensch mit seiner eigenen erfinderischen Zerstörungsfähigkeit selbst überraschen.
Der Wind verweht den Nebel. Wolken verdecken die Sonne. Der Boden bebt. Ich suche nach Halt. Eine Armee marschiert an mir vorbei. Sie kommt aus dem Südosten – die Osmanen wollen ihr Reich vergrößern. Ich höre das Geschrei der flüchtenden Bevölkerung. Ich halte mir die Ohren zu. Ich stehe auf einem Schlachtfeld.
Ein Blitz trifft mich. Donner grollt. Wieder die Osmanen. Zwei Mal hinterlassen sie tiefe Wunden mit ihrem Kanonenfeuer. Am Horizont kann ich Wien sehen. Die Stadt steht in Flammen, doch stehen tut sie weiterhin.
Mein Herz wird schwer. Ich lasse mich auf ein Knie hinab. Ich weiß, dass ich nicht der Erste bin, der hier steht. Doch wie viele Verbrechen wurden auf diesem Boden schon begangen?
Mein Knie trifft auf einen Stein. Eine Burg wird errichtet – eine Raubritterburg. Die Schiffe der Donau werden geplündert. Das Gras unter mir verwelkt unter der Last von unheimlichen Seuchen und Krankheiten. Der Gestank brennenden Fleisches füllt meine Lungen. Ich blicke über meine Schulter. Auf dem naheliegenden Berg werden sieben Frauen als Hexen verbrannt. Vier von ihnen sind … waren Mütter.
Ein starker Regen löscht das Feuer und löst eine Blitzflut aus. Ich will entkommen, doch meine Füße versinken in den immer tiefer werdenden Schlamm. Wellen an Menschen stürmen über mich hinüber. Verzweiflung treibt sie an. Seelen entfliehen ihrem Körper und laufen als kaum vernehmbare Geister vor der Menschenmasse her. Es ist, als wäre der Teufel selbst hinter ihnen her. Es ist die Völkerwanderung. Fast mystisch kommt mir diese Zeit vor. Ich spüre den Windsog an meinen Wangen.
Erschöpft und überwältigt sinke ich in die Knie. Aus dem Osten ertönen rhythmische Paukenschläge. Der Horizont bewegt sich vor der aufgehenden Sonne. Tausende Pferde galoppieren auf mich zu. Es ist Attila mit seinen Hunnen. Sie zertrampeln die weiche Erde. Ich blicke nach Westen. Dort berühren die letzten Strahlen des Sonnenuntergangs eine einst mächtige römische Stadt. Sie verschwindet im Staub des Reitervolks. Tränen wühlen sich in mir auf.
Die Nacht verdunkelt den Himmel. Die Bäume verdichten sich. Ich sammle meine Kraft und erhebe mich auf die Füße. Durch das dichte Geäst erblicke ich ein kleines Feuer. Jetzt sehe ich davon mehrere, sie bewegen sich in Windeseile auf mich zu. Ich drehe ihnen den Rücken zu und flüchte. Nach nur wenigen Schritten krache ich gegen eine vermeintliche Holzwand. Pfeifend bohren sich die Feuer in dieselbe Wand. Ich blicke hoch. Römische Legionäre begeben sich vor mir in Schlachtformation. Germanische Feuerpfeile waren das. Kriegsgeschrei erschüttert den Wald. Posaunen erklingen aus dem Dunkeln, der Gladius wird gezogen. Ich verdecke meinen Kopf und drücke die Augen zu.
Es ist still. Unheimlich still. Ich wittere warmes Tageslicht durch meine geschlossenen Augen. Meine Arme habe ich noch immer über meinen Kopf gehoben. Mein Herz zittert noch. Ich öffne die Augen. Vor mir steht ein Kelte. Lange feuerrote Haare hängen ihm bis über die Schulter. Sein Bart ist geflochten. An seiner Hüfte hat er ein Stahlschwert gebunden. Ihm gegenüber steht ein zweiter Mann. Gemäß seinem Gewand und rasiertem Gesicht muss er ein Römer sein. In seinen Händen hält er ein Tongefäß, dessen Oberfläche reich mit Farbe verziert ist. Ein kostbares Stück muss es wohl sein. Der Römer reicht es dem Kelten. Der Kelte bedankt sich stoisch. Aus nur wenigen Metern Entfernung beobachte ich diesen Austausch dieser beiden antiken Kulturen.
Dann höre ich ein Flüstern im Wind. Ein einsamer Pfeil schießt hinter einem Baum hervor. Der Kelte wirft den Kopf zurück und atmet kurz aus, bevor er leblos zu Boden sinkt. Das Tongefäß schwebt eine kurze Sekunde lang in der Luft, bevor es zu Boden fällt. Es zersplittert in Hunderte Stücke. Ich unterdrücke einen Schrei und laufe dem Geschehen entgegen. Der Römer ist weg. Auch der Kelte verschwindet vor meinen Augen.
Vor mir liegen Tonscherben. Sie versinken in den Erdboden. Ich schaffe es gerade, noch eine zu ergreifen. Ich betrachte sie.
Ein Wirbelsturm zieht auf.
Die Zeit fliegt an mir vorbei. Römer, Germanen, Hunnen, Raubritter. Schlachten, Seuchen, Hinrichtungen. Osmanen, Kriegsgeschrei. Giftige Gase, Schützengräben. Maschinengewehre, Stacheldraht. Bomben. Wehgeschrei.
Dann Stille.
Ich blicke auf den Erdboden unter meinen Füßen hinab. Dichtes Gras wächst hier. Die dunkelbraune Erde ist reich an Nährstoffen. In meinen Händen halte ich die Tonscherbe. Der Schatten einer längst vergessenen Verzierung bedeckt ihre Oberfläche.
Diese Tonscherbe ist eine Zeitzeugin, fremd fühlt sie sich aber längst nicht mehr an.