Seefahrer

Ein offener Brief an meinen kleinen Neffen

BETRACHTUNG

Coren McGirr

10/3/20253 min read

„Und so vergehen unsere Tage, im verzweifelten Versuch, unsere Existenz uns selbst gegenüber zu rechtfertigen.“

Mein lieber Neffe,

Als dein Onkel halte ich es für passend, dir einen Brief zu schreiben.

Diese Worte wirst du erst in vielen Jahren zu lesen bekommen und du wirst vermutlich nicht alles auf Anhieb verstehen. Das ist schon in Ordnung, ich selbst verstehe vieles noch immer nicht.

Ich schreibe, weil ich eine Frage an dich habe. Sie ist vielleicht etwas unangenehm, aber sie ist wichtig:

Warum gibt es dich?

Lass diese Frage ein wenig einsickern.

Überlege einmal: Milliarden von Menschen hat es schon auf dieser Erde gegeben. Jeder von ihnen hat gelebt, gelacht und geweint. Jeder von ihnen hat schon Hunger und Durst, Freude und Kummer gespürt. Jeder von ihnen wurde geboren und ist dann gestorben.

Und jetzt bist du dran. Jetzt darfst du leben.

Deswegen frage ich: Warum gibt es dich?

Weißt du, nur wenige Menschen stellen sich diese Frage, noch weniger nehmen sie ernst, und nur die Mutigsten aller Menschen streben nach ihrer Antwort. Und doch bin ich davon überzeugt, dass jeder Einzelne von uns irgendwie weiß, dass es diese Frage gibt – und wie das Schwert des Damokles hängt sie über unserem Kopf.

Und wegen dem Gewicht dieses Schwertes und dem einzelnen Pferdehaar, von dem es herabhängt, kommt es allzu oft zu einer der größten Tragödien, die ein Leben erleiden kann: Der Mensch bevorzugt Geborgenheit und Sicherheit über die Suche nach der Wahrheit und begibt sich deswegen mit einer oberflächlichen Antwort zu einer tiefgründigen Frage zufrieden.

Denn wo fühlt man sich sicherer, mein kleiner Neffe? … Am Strand verweilend und behauptend, man sei geschaffen, um im Sand zu sitzen, ODER als Schiffskapitän die Weltmeere vom Achterdeck aus erforschend?

Nur die Mutigsten, lieber Neffe, nur die Mutigsten setzen Segel und steuern gegen den Horizont.

Du wirst im Laufe deines Lebens viele Lügen hören.

Folge deinem Herzen;

Lebe deine Wahrheit;

Mach, was du liebst;

Hauptsache du bist glücklich;

Mach, was dich erfüllt.

Diese verführerischen Sirenenstimmen entstammen den Kehlen derer, die am Strand sitzen. Denn nie haben sie aufrichtig gesucht, und so wurden sie selbst zur einzigen Quelle der Wahrheit – einzig ihre Meinung, ihre Perspektive zählt, und der Mensch selbst steht im Mittelpunkt.

Und doch merken diese Besitzer der Sirenenstimme, dass es einen Grund für ihr Leben geben muss, denn sonst würden sie gar nicht hier im Sand sitzen.

Die Frage schwebt nämlich noch immer über ihrem Kopf, und das Schwert ist schwer.

Warum gibt es dich?

Und so vergehen die Tage von so vielen von uns, im verzweifelten Versuch, unsere Existenz uns selbst gegenüber zu rechtfertigen.

Warum gibt es dich?

Die häufigste Antwort ist diese:

Um mich selber zufrieden zu stellen.

Um Erfüllung zu finden.

Um Spaß zu haben.

Um glücklich zu sein.

Vielleicht hat Viktor Frankl recht: „Wenn ein Mensch keinen tiefen Sinn finden kann, lenkt er sich mit Vergnügen ab.“

Und so befinden wir uns in einer Gesellschaft, die permanent abgelenkt ist. Nur so wird das Schwert über dem Kopf vergessen. Mehr Ablenkung, mehr Unterhaltung, mehr Arbeit, alles, nur damit nie Stille einkehrt, … und nur nicht hinaufschauen. Nur nicht daran denken, dass die Frage noch immer nicht anständig beantwortet wurde und nun, wie die Klinge der Guillotine nach Blut durstet.

Nun, was soll ich dir noch sagen, mein kleiner Neffe? Ich selber kann nur von meinen Funden jenseits der ersten Wogen berichten. Ich befinde mich noch in Wurfweite des Strandes. Etliche Schiffsplanken habe ich schon austauschen müssen. Meine Segel habe ich schon des Öfteren flicken müssen, und das Wasser sickert unaufhörlich in den Rumpf meiner Galeone. Doch schon jetzt merke ich, dass der Horizont ferner ist als gedacht, die Meere größer und der Himmel weiter.

Und so komme ich auf die Frage zurück:

Warum gibt es dich?

Wenn du den Mut besitzt, wirst du in deinen späteren Jahren ein Seefahrer werden. Du wirst lernen, den Strand hinter dir zu lassen. Du wirst den Fängen der Selbstverherrlichung entweichen und auch den Sirenenstimmen wirst du entkommen.

Wenn du den Mut besitzt, mein kleiner Neffe, wirst du stets der Wahrheit nachstreben und dich niemals mit oberflächlichen Antworten, die falsche Geborgenheit versprechen, zufriedengeben.

Und so wirst du dann erfahren, warum es dich gibt.

Und du wirst verstehen, dass du deine Existenz niemals selbst rechtfertigen könntest.

Und du wirst sehen, dass du im Abbild Gottes erschaffen wurdest und dass dein edelstes Streben darin liegt, Ihn und deine Mitmenschen mit dem ganzen Herzen, der ganzen Seele und all deinen Gedanken zu lieben.

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