
Lieber Weitergehen
Wenn man nicht hinschaut, passiert es auch nicht
KURZGESCHICHTE
„Am praktischsten wäre es natürlich, wenn man sich aussuchen dürfte, wann man seinen Nächsten lieben muss.“
Beim Geschäftseingang war eine Dame.
Ihre Haut war braun gebrannt. Tiefe Falten saßen in ihrem Gesicht. Ihre Jacke war schmutzig. Ihre Hose war auch schmutzig – ebenso ihre Haare, ihre Schuhe und die Tasche, die neben ihr lag.
Sie saß am Boden.
Der kalte Wind wirbelte Blätter um sie herum.
Mit dem Rücken war sie an einem Mistkübel angelehnt. Ihre Hände umklammerten einen alten Papierbecher.
Sie saß gleich neben den Einkaufswägen. Jede Person musste zweimal an ihr vorbeigehen, zuerst um einen Wagen zu holen und dann noch einmal, um ihn wieder zurückzustellen.
Jeder ging zweimal an ihr vorbei, und doch schaute niemand sie an.
Sie war Fleisch und Blut, und doch war sie unsichtbar.
Sie war ein Mensch, und doch war sie irgendwie ein Gespenst.
Keiner sah sie.
Ich sah sie auch nicht, als ich aus dem Geschäft kam.
Ich brachte meinen Einkaufswagen zurück und ging an ihr vorbei.
Bloß nicht hinschauen. Bloß keinen Augenkontakt mit ihr machen.
Denn sonst würde sie wissen, dass ich sie ignorierte – dass mein Gewissen mich in diesem Moment verurteilte und an meiner Seele zerrte.
Lieber nicht hinschauen.
Lieber einfach weitergehen.

'42 Cent' - ist das die Grenze der Nächstenliebe?
