Ephialtes der Verräter

Der geheime Gebirgspfad der Selbsttäuschung

BETRACHTUNG

Coren McGirr; übersetzt von Benen McGirr

7/5/20255 min read

„Vor allem belüge dich nicht selbst. Ein Mensch, der sich selbst belügt und seiner eigenen Lüge zuhört, kommt an einen Punkt, an dem er weder in sich selbst noch in seiner Umgebung eine Wahrheit erkennen kann, und verfällt so in Respektlosigkeit gegenüber sich selbst und anderen. Und wenn kein Respekt mehr vorhanden ist, so hört er auf zu lieben.“ – Fjodor Dostojewski

Der Hoplit war das Herz und Blut der antiken griechischen Militärmacht. Er bildete die schwere Infanterietruppe. Seine Lanze und sein Schwert waren berüchtigt und gefürchtet; sein Helm, Brustpanzer und Beinschienen nahezu undurchdringbar. In der linken Hand protzte ein großer, runder Schild, der ihn und seine Kameraden deckte. Diese antiken Griechen liefen in mächtiger Schlachtformation auf: die Phalanx.

Um die Phalanx zu bilden, stellten sich die Hopliten Schulter an Schulter in Reih und Glied. Sie bildeten eine Wand aus ihren Schildern und ihre langen Lanzen ragten dem Feind entgegen. Die Phalanx bildete eine nahezu unüberwindbare Festung. Eine damalige gegnerische Streitmacht hatte wenig Chancen auf einen Sieg.

Als die Perser im Jahr 480 v. Chr. auf hellenischem Grund und Boden vordrangen, stand ihnen bei den Thermopylen, einem nur wenige Meter breiten Engpass, solch eine Phalanx gegenüber. Tagelang versuchte Xerxes, der König der Perser, die bronzene Wand aus Schildern und Speeren zu durchbrechen, um seinen Eroberungsfeldzug fortzusetzen. Vergeblich! Wäre es nicht für einen Griechen namens Ephialtes gewesen, wäre er vermutlich noch tagelang an der Stärke der Phalanx verzweifelt.

Aber, wie es das Schicksal so wollte, ging jener Ephialtes von Trachis als Verräter des Westens in die Geschichtsbücher ein. Er verriet den Persern einen geheimen Gebirgspfad, wofür ihm Reichtum und Macht versprochen wurden. Die Perser fanden somit einen Weg hinter die griechischen Linien. Leonidas und seine Spartaner wurden umzingelt und massakriert.

Während die Phalanx die frontalen Angriffswellen der Perser tapfer standhalten konnte, zerfiel sie durch den Verrat des Ephialtes.

Diese Geschichte bringt mich zum Nachdenken. Die Schlacht bei den Thermopylen scheint mir nicht lediglich ein historisches Ereignis zu sein. Ich finde, sie ist auch eine aussagekräftige Metapher für das Ringen, das in meinem Herz stattfindet. Es schmerzt mich zu erkennen, dass ich mich nicht nur in der starken griechischen Phalanx, die den Persern so tapfer standhielt, wiederfinde. Nein, ich sehe in mir auch einen Ephialtes, einen Verräter.

Denn Ephialtes verkörpert etwas noch Furchterregenderes als Angst, etwas Hinterlistigeres als Stolz und Neid. Er verkörpert etwas, das oft im Verborgenen bleibt.

Die Angst ist wie ein eiskalter Wind aus dem Norden. Sie jagt uns Schauer über den Rücken und setzt jegliches Gute sowie jede Selbstlosigkeit außer Gefecht. Die eisigen Winde der Angst können überwältigend sein, aber die lodernden Flammen des Mutes können sie zurückschlagen.

Der Stolz ist wie ein Turm, der in den Himmel hochragt. Das sandige Fundament wird stärker und stärker zusammengepresst, je größer er wird; so stark, dass man meinen könnte, es sei solider Stein. Doch das Fundament besteht immer nur aus Sand und es braucht nur einen leichten Stoß der Bescheidenheit, um ihn zum Fallen zu bringen.

Der Neid ist wie eine Welle, die auf eine Felswand hereinbricht. Jedes Mal prallt sie an der Standfestigkeit der Klippe ab. Sie weiß, dass ihr Wasser nie das Gestein zerbröckeln kann. Also entscheidet sie sich, langsam den Felsen abzunutzen, Welle für Welle. Die Wogen des Neides zermürben uns allmählich und können verheerenden Schaden anrichten. Doch auch nur ein einziger Tropfen aufrichtiger Dankbarkeit kann das stürmische Meer beruhigen.

Mein Herz befindet sich in einer ewigen Schlacht. Es gibt viele Eigenschaften in mir, die ich bekämpfen und loswerden möchte. Und es gibt für jede dieser unheilvollen Eigenschaften – wie Angst, Stolz und Neid – einen klaren Gegenspieler – wie Mut, Bescheidenheit und Dankbarkeit – der sie ausschalten kann.

Sogar die größten Antihelden Täuschung und Trug finden ihren Endgegner in der Wahrheit.

Es gibt aber ein Problem. Es scheint noch einen ominöseren Antihelden zu geben. Und er hat keinen Gegenspieler, der ihm die Stirn bieten kann.

Die Schlacht wütet weiter. Meine Phalanx hält der Dunkelheit stand. Aber dieser berüchtigte Antiheld verspottet mich. Er verhöhnt meine bronzene Wand und meine spitzen Lanzen, denn er greift mich nicht frontal an, wie alle anderen. Er verwendet nicht einmal Schwert und Schild, um meine Reihen zu durchbrechen, wie die Perser es einst gegen die Griechen bei den Thermopylen getan haben.

Dieser Antiheld ist mein Ephialtes. Dieser Antiheld ist derjenige, der den Feinden den geheimen Gebirgspfad verrät.

Dieser Antiheld ist die Selbsttäuschung.

Seine Pfeile können meine Schildwand nicht durchdringen, aber er führt heimlich meine Feinde an meiner Phalanx vorbei. Sie stellen sich hinter mich auf, Bogen gespannt, bereit zum Angriff. Und ich verbleibe ahnungslos.

Mein Schild fängt einen feindlichen Angriff ab. Mut lässt die Angst abprallen. Bescheidenheit bekämpft unermüdlich den Stolz.

Aber die Selbsttäuschung ist nicht ein Feind, der mich mit Hieben und Schlägen angreift. Die Selbsttäuschung ist ein Feind, der in meinen eigenen Reihen steht. Es bin ich, der mich angreift. Genauso wie der Grieche Ephialtes die Landschaft seiner Heimat gut kannte, so kenne ich die Lügen und Ausreden, die ich unbedingt hören will. Und ich kenne die Lügen, die ich glauben werde. Ich kenne die falschen Wahrheiten, die ich den echten vorziehe.

Genauso wie Ephialtes wusste, wie er die Griechen verraten kann, so weiß ich, wie ich mein eigenes Herz verraten kann.

Ich kann mich beschützen. Ich kann mein Schild hochhalten, die starke bronzene Wand errichten und mich meinen Feinden, die versuchen mich von meinen Werten abzubringen, tapfer stellen. Aber wie kann ich mich vor dem Angriff von Innen beschützen? Wie kann ich mich gegen die Lügen, die ich mir selbst erzähle, verteidigen?

Sobald ich in die Falle der Selbsttäuschung tappe, habe ich bereits die Lügen der Wahrheit bevorzugt. Und ist es nicht genau das, was die Selbsttäuschung ausmacht? Was sie so gefährlich macht? Wenn Ephialtes hinter mir steht und seine Pfeile in meinen Rücken schießt, werde ich schwach. Mein Schild kracht zu Boden, mein Schwert fällt mir aus der Hand. Dann türmen sich meine Feinde, die an der Stärke meiner Phalanx tagelang gescheitert sind, vor mir auf, während ich machtlos in die Knie falle.

Es sind dann Angst, Stolz und Neid, die ihr Schwert an meine Kehle halten, aber eigentlich besiegt hat mich die Selbsttäuschung. Sie hat mich in die Knie gezwungen.

Ich sehe nur einen Weg, wie ich mich davor schützen kann: Nur wenn ich mir zu jeder Zeit bewusst bin, dass der Ephialtes in mir dauernd versucht, meinen Feinden den geheimen Gebirgspfad durch mein Herz zu zeigen, kann ich ihn bekämpfen. Nur wenn ich weiß, dass es einen Verräter in meinen eigenen Reihen gibt, kann ich ihn erkennen.

Ich glaube, dass die Wahrheit wichtiger als alles andere sein sollte. Dabei darf ich aber keinesfalls vergessen, dass mein jetziger Wissensstand und mein jetziges Verständnis sich verändern wird und sich auch verändern sollte, je mehr ich dazulerne. Es ist wesentlich, dass meine starken Überzeugungen und Ansichten nicht in Stein gemeißelt sind, sondern dass sie sich immer weiterentwickeln und weiterwachsen. Und es ist unentbehrlich, dauernd diese kleinen Lügen zu suchen, die ich mir selbst zuflüstere, damit ich sie entwaffnen kann, bevor sie mit gespanntem Bogen hinter mir stehen.

Eines ist aber sicher, denke ich: Eine tapfere Phalanx kann mit guten Waffen ausgerüstet jeglichem Ansturm von Lügen, Angst, Stolz und Neid standhalten. Aber sogar die tapferste Phalanx wird in die Knie gezwungen, wenn der berüchtigtste Antiheld den Feinden den geheimen Gebirgspfad zeigt, um unentdeckt von hinten anzugreifen.

Sei also wachsam.

Schätze die Wahrheit.

Rechne mit Ephialtes.