a wooden fence in a grassy field with mountains in the background

Der Zypressenwalzer

Verachtung und Verurteilung – nur in der Übersetzung gefunden

BETRACHTUNG

Coren McGirr

6/21/20252 min read

Ich liege im Gras. Das freudige Zwitschern der Amseln bildet ein Orchester. Die Sommerbrise fordert eine nahestehende Zypressin zu einem Walzer auf. Der blaue Himmel erstreckt sich bis zum Horizont. Eine einsame weiße Wolke bewundert die Eleganz der dendritischen Tänzerin. Ich, wiederum, beobachte die Wolke. Der Poet in mir sucht nach Worten.

Die Wolke nimmt die Form einer Galeone an. Ächzend und stöhnend segelt sie durch das Indigomeer. Nein, nein, zu Schiffen fällt mir sicher keine Lyrik ein. Eine Burg, das ist sie. Diese Wolke ist eine Burg mit Graben und edlen Rittern. Das ist ein Bild, das sich für Poesie anbietet und ich spüre, dass sich die ersten Worte bilden:

Wir sehen das, was wir sehen möchten.

Ein Windhauch lässt die Blätter rascheln. „Vertrau mir,“ flüstert die Brise der Tanzpartnerin zu, „Ich halte dich, lass dich von der Musik begleiten.“ Die Zypressin stößt die Brise fauchend weg: „Du glaubst, ich weiß nicht, wie man tanzt? Wie kannst du nur eine solche Behauptung wagen?!“ Weitere Worte kommen in mir auf:

Wir hören das, was wir hören möchten.

Das Orchester verstummt. Der letzte freudige Ton verlässt das Tal. Nur die Stille bleibt zurück. Die Amseln blicken einander an. „He, was soll das?“ klagt die eine, „Gefällt denen unsere Musik nicht?“ „Also wenn das so ist,“ meckert die andere, „dann haben die beiden unser Zwitschern gar nicht verdient.“ Und wieder:

Wir verstehen so, wie wir verstehen möchten.

Nun weht die Brise nicht mehr, die Zypresse verharrt still und die Amseln schweigen. Diese neu aufgekommene Stille beirrt mich, doch der Poet ist noch nicht zufrieden. Es gibt noch mehr zu sagen.

Ich blicke erneut zur Wolke empor. Das Indigomeer hat seine Farbe verloren. Dunkelgrau ist es nun und die Galeone kämpft in den aufkommenden Wogen um ihr Überleben. Ach, was red ich da? Eine Burg war diese Wolke, keine Galeone. Ja, eine Burg. Und sie wird belagert.

Ein starker Wind zieht auf, füllt den weißen Segel und das Bild verschwindet vor meinen Augen. „Burgen habe doch gar keine Segel.“

Ich spüre Regentropfen auf meinem Gesicht. Sie rollen meine Wangen hinunter. „Ah geh,“ spottet die Zypressin, „du wirst jetzt doch nicht weinen?! Ich verweigere dir einen Tanz, weil du mich respektlos behandelst, und du kannst nur weinen!

Der Regen verstärkt sich.

Windböen zerren an den Ästen der Zypressin.

Es ist meine Sommerbrise, die dich zum Tanzen bringt! Es sind meine Tränen, die deine Wurzeln bewässern!“ erwidert der Wind.

Die Zypressin ist still, dann wendet sie ihm den Rücken zu und redet über die Schulter: „Nie habe ich deinen Tanz gebraucht. Nie habe ich dich um deine Tränen gebeten. Ich brauche dich nicht.“

Die Amseln, beleidigt, dass der Wind ihren Gesang übertönt und die Zypressin nicht mehr tanzen wird, entscheiden sich, ab jetzt für immer leise zu bleiben.

Ich sitze noch immer im Gras und öffne mein Notizbuch. Die Seiten sind nass.

Ich schreibe...

Wir sehen das, was wir sehen möchten.

Wir hören das, was wir hören möchten.

Wir verstehen so, wie wir verstehen möchten.

Und so treffen Worte der Liebe auf Unsicherheit und werden als verachtend wahrgenommen.

So werden achtsame Beobachtungen gespiegelt und als Verurteilung interpretiert.

Und so wird alles in der Übersetzung verloren und zu vieles gefunden, das nicht einmal dort ist.

Denn der Beobachter möchte nicht sehen, was tatsächlich passiert;

Der Zuhörer möchte nicht hören, was tatsächlich gesagt wird;

Und der Denker möchte nicht wissen, wie es wirklich ist;

…, sondern nur, wie er es haben möchte.

a wooden fence in a grassy field with mountains in the background