Das Scherbengericht

Um jenen Neid zu besänftigen...

BETRACHTUNG

Coren McGirr

9/28/20252 min read

Es ist das Jahr 471 vor Christus. Die Szene, die sich auf der Agora, dem Hauptplatz Athens, abspielt, könnte direkt einem griechischen Drama entnommen sein.

Ein Held steht vor Gericht.

Themistokles heißt er, dieser Held; Themistokles, Sohn des Neokles.

Vollblütiger Athener ist er nicht, doch ausreichend Blut hat er für das Wohl seiner Polis vergossen. Und nun ist sein Name, trotz seines bescheidenen Ursprungs, untrennbar mit der Geschichte Athens verbunden.

Themistokles ist der Sieger von Salamis und der Bezwinger der Perser. Man könnte leicht glauben, dass er der Liebling des Poseidons sei. Seine Kriegsflotte regiert das Mittelmeer, und Athen genießt das Privileg, Anführer des Attischen Seebundes zu sein.

Hier sitzt er, dieser Mann, dessen Wagemut und strategische Intelligenz Athen vor dem sicheren Untergang bewahrt haben, und jetzt wird sein Schicksal von seinen Landsmännern bestimmt. Tonscherben werden an alle Anwesenden verteilt und jeder ritzt einen Namen ein. Die Mehrheit schreibt „Θεμιστοκλῆς“. Das Scherbengericht hat gesprochen: Themistokles wird verbannt. Nun darf er zehn Jahre lang seine Heimatstadt nicht betreten.

Warum wurde er zum Opfer des Ostrakismos?

Plutarch scheint in seinem Werk ‚Das Leben des Themistokles‘ die richtigen Worte gefunden zu haben, um diese Frage zu beantworten: „… die Verbannung war keine Strafe, sondern ein Mittel, um jenen Neid zu besänftigen, der sich daran ergötzt, die Herausragenden zu demütigen …

Es scheint, die Mitbürger des Themistokles wurden seines Ansehens neidisch. Sie verleumden ihn, um seinen Ruf zu schädigen. Sie hinterfragen seine Loyalität gegenüber der Polis Athen. Sie beschuldigen ihn strategischer Fehlentscheidungen im Perserkrieg.

Sparta, der wachsende Feind Athens, mischt sich auch ein und versucht Themistokles des Hochverrats anzuklagen – denn ein Athen ohne Themistokles ist ein schwaches Athen.

Schlussendlich wird Themistokles nicht nur verbannt, sondern er muss fliehen. Die Athener wollen ihn nicht nur loswerden, sie wollen sein Leben.

Er wird nie wieder in seine Heimat zurückkehren.

Themistokles wurde von Athen bewundert und gleichzeitig auch beneidet.

Antike Historiker beschreiben ihn als Genie. Sie versuchen die Bewunderung seiner strategischen Brillanz in ihren Texten durchklingen zu lassen. Sie versuchen den Neid aufzufassen, der in den aristokratischen Straßen der Stadt schwillt.

Einzig Sparta beneidet Themistokles nicht. Sparta bewundert ihn und weiß, dass Athen mit ihm zu stark ist.

Doch die Athener verbannen den Bezwinger der Perser – um jenen Neid zu besänftigen, der sich daran ergötzt, die Herausragenden zu demütigen.

Ich sehe Athen im Jahr 471 vor Christus als Symbol: Neid zerstört.

Neid ist jener Übeltäter, der dem Menschen jegliche Fähigkeit raubt, Inspiration in den Errungenschaften anderer zu finden. Er entreißt dem Menschen seine Nächsten, indem er die tiefsten Unsicherheiten aufgreift und an die Oberfläche des Bewusstseins zerrt. Er ist, so komisch es auch klingt, ein Schutzmechanismus. Ein Schutzmechanismus, der den Stolz hütet und auf wundersamer Weise den Menschen dazu verleitet, die Personen und Taten zu verachten, die er eigentlich bewundern, ja sogar nachahmen möchte.

Ich sehe Athen im Jahr 471 vor Christus, und ich spüre, wie einige Fragen in mir hochkommen:

Auf welcher Weise gleiche ich den Athenern?

Auf welcher Weise fließt Neid in den Straßen meines Herzens?

Dann eine unangenehme Frage:

Wie viele Personen habe ich schon aus meinem Leben verbannt – ohne Gericht, ohne Urteil – weil Neid in mir Halt gefunden hat und mein Herz kalt werden ließ?

...und selbstverständlich würde ich niemals zugeben wollen, dass Neid der Auslöser der Verbannung gewesen ist. Nein, vermutlich würde ich ein paar Ausreden erfinden, wie es die Athener ebenfalls getan haben.

Und dann, eine letzte Frage:

Was kann ich dagegen tun?

britannica.com/technology/trireme

Ostrakon mit dem Namen "Themistokles" eingeritzt (480-460 v. Chr.)

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